Wallstein Verlag


Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft


Internationales Organ für Neuere deutsche Literatur

Herausgegeben von Elisabeth Décultot, Alexander Honold, B. Venkat Mani, Steffen Martus und Sandra Richter

480 S., geb., Schutzumschlag, 15,5 x 23 cm
ISBN: 978-3-8353-5512-5 (2024-01-04)

zum Buch

Mario Zanucchi

Rilke und Zinzendorf: Neue Forschungsperspektiven auf 'Die Sonette an Orpheus' (1922)

Der vorliegende Beitrag möchte die Aufmerksamkeit auf eine bisher unbeachtete intertextuelle Quelle von Rilkes 'Sonetten an Orpheus' lenken: die 'Geistlichen Gedichte' des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Mit dem formalästhetischen wie spirituellen Experimentalismus von Zinzendorfs geistlichen Liedern zeigen Rilkes Sonette eine verblüffende Affinität, die bis hin zu zahlreichen wörtlichen Anklängen und intertextuellen Anleihen reicht und die in diesem Beitrag 'en détail' untersucht wird. Der Aufsatz macht zugleich deutlich, dass Rilke eine säkulare und kontrafaktische Lektüre von Zinzendorfs 'Geistlichen Gedichten' vornimmt. Sie kehrt die übliche Richtung der allegorischen Figurallektüre um, die aus Orpheus stets eine ›Figura Christi‹ machte, und verwandelt den von Zinzendorf besungenen Christus in eine ›Figura Orphei‹. So erscheint Rilkes Orpheus nicht nur als ein Dichtergott, sondern auch – in Nietzsches Nachfolge – als ein ­poetischer Anti-Christus, der mit seinem negierten Antipoden vielfach verbunden bleibt.

The present paper aims to draw attention to a hitherto unnoticed intertextual source of Rilke’s 'Sonetten an Orpheus': the 'Geistlichen Gedichte' of Count Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. With the formal as well as spiritual experimentalism of Zinzendorf’s spiritual songs, Rilke’s sonnets show a striking affinity, which extends to numerous literal echoes and intertextual borrowings and is examined in detail in this article. At the same time, the paper makes clear that Rilke’s reading amounts to a secular and counterfactual reversal of Zinzendorf’s 'Geistlichen Gedichte'. It reverses the usual direction of allegorical figural reading, which always made Orpheus a ›Figura Christi‹, and transforms the Christ sung about by Zinzendorf into a ›Figura Orphei‹. Thus, Rilke’s Orpheus does not only appear as a poet-god, but also – following Nietzsche – as a poetic anti-Christ, who remains multiply connected to his negated antipode.


https://doi.org/10.46500/83535512-006

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